Stillstand im Bildungssystem

Wir sind Subjekte unseres Lebens – oder sollten es sein. Das Wort "Subjekt" allerdings stammt aus der Zeit der Untertanen, und es ist fraglich, ob die Menschen, die im Schulsystem arbeiten und dort ausgebildet werden, wirklich Subjekte ihres eigenen Lebens sind beziehungsweise werden. Ein Subjekt bestimmt den Satz. In der Schule bestimmen Vorgaben von außen, somit sind alle ausgeliefert und Objekte eines Systems, das seit über hundert Jahren in denselben Bahnen verläuft. Lehrpläne, Hauptfächer, Leistungsüberprüfungen, Schulabschlüsse – während sich die Welt im Turbotempo verändert, bleibt das System Schule erstarrt. Mathe, Deutsch, Englisch. Keine gewaltfreie Kommunikation, keine Gefühlslehre, keine Übungen zur inneren Regulierung oder Freiheit, keine Körperwahrnehmung, keine friedliche Konfliktlösung.
Neue Lerninhalte für eine neue Zeit
Aber wir brauchen neue Lerninhalte, denn wie im Innen, so im Außen: Alte Konflikte brechen überall auf und kochen über. Auf der Weltenbühne zeigt sich das, was auch in uns und im direkten Umfeld geschieht. Frauenhass, Rassismus, Terrorismus, Extremismus, Narzissmus, Rücksichtslosigkeit, Machtgehabe, Zerstörung. Es sind Egokriege, oft von Männern geführt, die innere und äußere Welten in Angst und Unsicherheit stürzen. Dadurch verändern sich die Bedürfnisse der Menschen genauso rasant wie die Technik. Man bedenke, wie oft ein neues iPhone auf den Markt kommt. Während die äußere Welt in Lichtgeschwindigkeit voranschreitet, versinkt die Gesellschaft in emotionaler Verwahrlosung. Gefühle und Ängste werden betäubt anstatt aufgelöst. Niemand will dazulernen, alles wird unternommen, um die alten Werte zu bewahren, um so zu tun als wäre der Wandel aufzuhalten. Aber er wird sich nicht aufhalten lassen. Wir stecken mittendrin. Die Menschheit sortiert sich neu. Wir brauchen neue Regeln, neue Systeme und einen flexiblen Umgang mit Veränderung.
Individualität als Schlüssel zur Stärke

Unsere Welt steht vor so vielfältigen Herausforderungen, dass wir unglaublich vielseitige Menschen brauchen, um sie zu lösen. Wir brauchen das Neue so dringend. Neue Ideen, neue Möglichkeiten, um mit den immensen Anforderungen klarzukommen. Wir sind im Zeitalter der Individualität. Es geht darum, dass jede Person die ganz persönlichen Stärken entfalten kann. Denn wir sind am aller stärksten und effektivsten, wenn jeder individuell strahlen kann und darf. Strong me – strong we!
Eine Welt, die sich neu erfindet, braucht Menschen, die sich selbst entdecken und entfalten können – frei von alten Begrenzungen. Die Welt ist jedoch voller Grenzen: etwa geografisch, politisch, kulturell, gesellschaftlich, gedanklich, emotional oder innerlich. Wir haben gelernt, unsere echten Gefühle und wahren Bedürfnisse zu verstecken, uns kleinzumachen, anzupassen und uns auf äußere Strukturen zu verlassen, die uns schützen sollen. Doch das tun sie nicht. Sie pressen uns in Raster, die uns zu Objekten machen. Nicht zu Subjekten, die gemeinsam Neues erschaffen.
Schule als Spiegel gesellschaftlicher Begrenzungen
Schule spiegelt diese Begrenzungen im Kleinen wider. Auch Papa Staat nimmt es nicht so genau mit seiner „Fürsorgepflicht“. Aber woher sollen wir das wissen? Immerhin haben wir alle unsere unaufgearbeitete Elternthemen, weil wir nie den gesunden Umgang mit Emotionen gelernt haben. Die wenigsten von uns wissen, wie sich echte Fürsorge überhaupt anfühlt. Alle verdrängen das eigene Innenleben und anstatt das Außen damit eventuell sogar zu bereichern, begrenzen sie sich und andere dadurch. Das Lehramtsstudium besteht im Grunde aus der Lehre des Anpassens, des Funktionierens und der Bewertung – und zwar nicht nur der von Schüler:innen mit Noten, sondern auch sich selbst! Denn wer das Leben ständig in gut oder schlecht, richtig oder falsch denkt, begrenzt automatisch seinen eigenen Horizont. Die fachlichen Inhalte sind beschränkt, man folgt vorgegebenen Lehrplänen, festen Ferienterminen. Ein festes, limitiertes Gehalt verstärkt diese Begrenzung. Und wer ausbricht, wer Neues wagt, bekommt Ärger, wird ermahnt, von den Kolleg:innen bewertet. Wie sollen sich Lehrkräfte in einer Umgebung, in der alles so streng begrenzt ist, gegenseitig stärken und mit innovativen, bahnbrechenden und eventuell sogar zukunftsweisenden Ideen befruchten? Wie soll in einer solchen Atmosphäre Wandel entstehen, in der Fortschritt ständig an unsichtbaren Mauern zerschellt?

Wie sollen Schüler:innen wiederum ihre eigene Kraft entdecken, wenn Lehrkräfte selbst derart begrenzt sind? Wer in feste Raster gepresst wird und bestimmte Noten für sehr einschränkende, vorgegebene Kompetenzen erhält, hat wenig Raum für das Entdecken des eigenen Könnens außerhalb der Vorgaben. So kann niemand die eigene Einzigartigkeit in den Klassenverband tragen, denn viele schämen sich sogar für das, was sie besonders macht - vor allem, wenn es von der bewerteten "Norm" abweicht. Eine Gemeinschaft kann aber nur wachsen, wenn sich alle zeigen dürfen. Dafür müsste das Entstehen von Miteinander und das Respektieren von Andersartigkeit aber unterrichtet werden und ausreichend Unterstützung vorhanden sein. Stattdessen wird der Lehrplan durchgeballert, Wissen wird von oben nach unten weitergegeben: Vorgaben und Lehrkräfte bestimmen dabei, welches Wissen die Schüler:innen brauchen. Dabei ist der Zugang zu Wissen heute leichter denn je - und völlig unbegrenzt! Niemand braucht Lehrer:innen mehr, um noch mehr unnötiges Wissen draufzupacken. Was jedoch gebraucht wird, sind mündige Erwachsene, die jungen Menschen zeigen, wie sie mit all den Herausforderungen des modernen Lebens, der schnellen Welt und all dem Wissen, das ihnen zur Verfügung steht, umgehen. Die Lehrkräfte der neuen Zeit müssen Lernprozesse begleiten und dabei selbst lernen. Real-time Lernbegleitung, sich einlassen auf das, was gebraucht wird. Wissensvermittlung im ursprünglichen Sinn hat keine Zukunft. Schule, wie wir sie kennen, hat keine Zukunft. Das Bildungsministerium, wie es heute existiert, hat keine Zukunft. Das Beamtenwesen hat keine Zukunft. Die Welt braucht neue Systeme, die sich flexibel an Veränderungen anpassen und schnell erkennen können, was von wem gerade für den optimalen Entwicklungsprozess benötigt wird.
Mut zur Unsicherheit und gemeinsamen Lernprozessen

Das erfordert allerdings Mut. Denn es bedeutet zuzugeben, dass wir keine Ahnung haben, wie es geht. Dass wir alle gemeinsam und voneinander lernen und zusammen er-wachsen müssen – junge UND erwachsene Menschen. Kleine müssen von Großen lernen, aber auch Große von Kleinen. Dafür müssen sich die Großen kleiner machen. Auch die mit Lehramtsstudium und Studienratstiteln.
Aber insbesondere an Schulen steht dem Wandel viel im Weg: Die Angst vor Fehlern, die Autoritätshörigkeit und der Hang zum Perfektionismus sind groß. Wer Veränderungen zulässt, muss zugeben, dass er nicht alles weiß und Kontrolle abgeben ohne den Prozess zu bewerten! Und genau da begegnen wir unseren eigenen Dämonen. Schließlich haben wir als Gesellschaft nie gelernt, mit denen konstruktiv, ehrlich und schamfrei umzugehen und sie einfach mal in Ruhe kennenzulernen. Doch genau das ist der Schlüssel: Wir ALLE haben diese Dämonen. Und was das Neuland betrifft, das wir betreten: NIEMAND kennt es. Und das ist in Ordnung. Wir müssen aufhören, so zu tun, als hätten wir die Antworten. Wir müssen lernen, das Unbekannte gemeinsam zu erforschen und gemeinsam nichts zu wissen – und daraus etwas Neues erschaffen.
DER WERT KOLLEKTIVER WEISHEIT

Die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind so facettenreich und differenziert, dass wir uns selbst in all unseren schillernden Farben und Talenten feiern müssen, um uns und unsere Welt zu retten. Wir sind mehr denn je auf die Gemeinschaft angewiesen, denn kein einzelner Mensch hat alle Antworten. Wenn wir das glauben, könnte es uns so ergehen wie den USA gerade. Insofern hat womöglich auch unser politisches System mit einzelnen Staatsoberhäuptern ausgedient. Wir müssen genauer hinschauen und erkennen, wo die UR-Sachen unserer Probleme liegen. Als ginge es nur darum, die AfD in Deutschland zu bekämpfen. Es ist kein Kampf gegen eine Partei oder gegen rechtsradikale Tendenzen. Es geht um unsere eigenen verdrängten Anteile, denn das, was wir im Außen verteufeln, ist auch ein Teil in uns. Es geht um unerlöste Gefühle, ganz viel Wut, die fehlende Anerkennung von Verletzungen und um die Tatsache, dass viele Menschen im Wandel einfach nicht mitgenommen wurden und werden. Aber wieder steht jemand vorne und sagt: Das, was die anderen denken, ist falsch, und nur, was wir denken, ist richtig.
In der Stammeskultur wurden aufgrund der überlebenswichtigen Gemeinschaft emotional oder körperlich belastete Menschen sofort gesehen. Denn man wusste: Ist einer von uns krank, betrifft es den ganzen Stamm und es wurden gemeinsame Heilrituale abgehalten. Davon sind wir heute weit entfernt. Alles Fremde und Andersartige wird abgelehnt. Da ist es egal, ob es um ein Körperbild, eine politische Gesinnung, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht geht. Dabei sind wir ALLE mit „Feindbildern“ großgeworden und absolut ALLE rassistisch, sexistisch, behindertenfeindlich, oder fettphobisch sozialisiert worden – egal, was wir am liebsten sagen würden. Schaut man sich eine „Multi-Kulti-Serie“ wie "Doppelhaushälfte" an, wird schnell klar: Alle Menschen haben Vorurteile gegenüber dem Fremden. Die vietnamesische Oma hat Angst vor Afrikanern, die wiederum sind genervt "von den Weißen" und selbst die vorbildlich Aufgeklärten treten immer wieder ins Fettnäpfchen. Es geht nicht darum, wer besser oder schlechter ist – es geht darum, dass wir ALLE noch viel und vor allem gemeinsam voneinander lernen müssen. Denn nur so kommen wir vorwärts.
Mutige VORBILDER gestalten die Zukunft der Bildung

Gerade Schule sollte ein Raum – wenn nicht gar DER Raum - sein, in dem diese Auseinandersetzung stattfinden kann. Aber solange sie an alten Mustern festhält und sich dem notwendigen Wandel verweigert, wird sie weiter hinter der Zeit herhinken – zum Nachteil aller, die in ihr gefangen sind. Solange derart starr an Strukturen festgehalten wird, kann niemand in seine Kraft kommen.
Doch es gibt Hoffnung: Auch in starren Systemen kann man sich mit anderen rebellischen Gemütern und denen, die dem Wandel bereits offen gegenüberstehen, verbinden. Es gibt Schulen und Lehrkräfte, die vorangehen, sich den auferlegten Ketten widersetzen und aus Regelkorsetten befreien. Es geht darum, laut zu werden, keine Angst mehr zu haben, was man alles zu verlieren hat. Denn was ist wichtiger: Brav sein, sich im Beamtendienst nichts zuschulden kommen zu lassen – oder aufzustehen für das, was wirklich zählt? Nämlich unsere eigene Zukunft, die unseres Landes und der einer neuen Generation! Und die braucht dringend gute Vorbilder! Damit wir alle gemeinsam als bunte Subjekte spannende, neue und zukunftsweisende Hauptsätze bilden können!
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